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Bewegende Filmaufnahmen in Sterbfritz

Amerikanerin auf der Suche nach ihren Wurzeln

Sterbfritz 11.11.2021

Einen Tag nach ihrer Teilnahme an der Gedenkveranstaltung zum November-pogrom 1938 in Neu-Isenburg verbrachte Tracy Whipple zusammen mit ihrem Lebensgefährten, dem französischen Regisseur und Autor Gilles Bovon, einige Stunden in Sterbfritz, dem Geburtsort ihres Großvaters Wilhelm Eckhardt. Das in Paris lebende Paar befindet sich auf familiärer Spurensuche und hält diese mit der Kamera fest.

 

Tracy Mutter, die 1932 geborene US-Amerikanerin Rita Whipple hieß nach ihrer Geburt im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde in Frankfurt Renate Tannenbaum. Sie lebte von 1935 bis 1937 in Neu-Isenburg im Heim des Jüdischen Frauenbundes bevor sie 1939, kurz nach der ,Reichskristallnacht', mit Ihrer Mutter Klara und ihrem Bruder Egon Nazi-Deutschland verließ, als eine von etwa 20.000 Jüdinnen und Juden, denen bis 1941 die Flucht nach Shanghai/China vor Schließung der Flüchtlingsrouten durch den Kriegseintritt Japans gelang. Mit der Unterstützung der in den USA lebenden Familie reisten dann die Tannenbaums schließlich 1949 nach New York und Renate wurde Rita.

 

Tochter Tracy Whipple erzählt, dass sie von der Biografie ihrer Mutter nichts gewusst habe. Wenn Mutter und Großmutter etwas besprachen, was die Tochter nicht hören sollte, „dann redeten die beiden auf Deutsch“. Erst vor Kurzem wurde die eigene Herkunft zum Thema, „erst als Erwachsene erfuhr ich von meiner jüdischen Herkunft“.

 

Den Filmemacher Gilles Bovon interessierte die neu entdeckte Geschichte. Nach kleinen Anlaufproblemen bei der Recherche fand er die Wurzeln der Schwiegermutter ganz leicht, indem er ihren ursprünglichen Namen in die Suchmaschine eingab. Im Online-Gedenkbuch für das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg wurde er fündig. Die Kunsthistorikerin Esther Erfert-Piel, die das Gedenkbuch im Netz betreut, wurde von Bovon kontaktiert und gebeten, ihm bei den Nachforschungen zu helfen.

 

Rita Whipple per Videocall

Besonders die Recherchen zu Renates Vater, der für sie nur ein Name auf ihrer Geburtsurkunde war, weitete sich bald auf viele Institutionen in Deutschland aus. Von einer Adresse in Frankfurt am Main nahm die Suche nach ihm ihren Ausgang. Über die Sterbfritzer Internetchronik fand sich ein Kontakt zum Dorf-verein ‚Starwetz lebt!‘ der weitere Informationen beitragen konnte. Jochen Melk vom Chronikteam des Vereins erstellte aus bereits im Staatsarchiv Marburg digitalisierten Standesamts-daten einen kleinen Stammbaum, der bis zu den Großeltern von Wilhelm Eckhardt zurückreicht. Auch einige Wohnorte der Familie konnten ermittelt werden. Viele Informationen wurden zusammengetragen, so dass man Rita Whipple zu ihrem 89. Geburtstag die Lebens-geschichte ihres Vaters in einem Videocall präsentieren konnte. Es war ein Geschenk der ganz besonderen Art und sie kommentierte es auf Deutsch mit den Worten „Ich habe wirklich einen Vater!“.

 

Dieser Vater, Wilhelm Eckhardt, wurde 1902 in Sterbfritz geboren. In den frühen 1930er Jahren zog es ihn wie viele andere nach Frankfurt, hier fand er Arbeit als Hotelangestellter und lernte die Jüdin Klara Tannenbaum kennen. Acht Monate nach der Geburt der Tochter Renate kannte er auf einem Standesamt in Frankfurt die Vaterschaft an.

 

Filmaufnahmen in der Alten Schlüchterner Str.

Die Suche nach ihren familiären Wurzeln, die Tracy Whipple nun zu ihrem ersten Aufenthalt in Deutschland geführt hat, werden von Gilles Bovon und einem französischen Kameramann in einem Dokumentarfilm festgehalten. In Sterbfritz wurde sie nun erstmals mit den Ergebnissen des Chronikteams konfrontiert. Ortsvorsteher Wilhelm Merx, der auch Vorsitzender des Dorfvereins ist, erläuterte detailliert die recherchierten Familien-verhältnisse. Sichtlich bewegt erkundigte sich Tracy nach den näheren Lebensumständen ihrer Vorfahren und der Menschen im Ort. Dies konnte auch anhand einige Bilder aus der Zeit verdeutlicht werden. Auch das Geburtshaus ihres Vaters konnte auf einem Bild gezeigt werden. Es stand an der heutigen Ecke Schlüchter-ner Straße / Alte Schlüchterner Straße und wurde beim Straßenneubau Ende der 30er Jahre abgerissen. Am diesem Standort wurde dann auch das Schicksal der ehemals großen jüdischen Gemeinde in Sterbfritz thematisiert.


Als Geschenk für Rita Whipple wurde ihrer Tochter ein Exemplar des Buches "Aus unbe-schwerter Zeit" von Max Dessauer überreicht, in dem er aus der Zeit seiner Kindheit berichtet, als in Sterbfritz Juden und Christen noch einträchtig beieinander wohnten. Das Buch soll ihr ein lebendiges Bild der Heimatgemeinde ihres Vaters vermitteln.

 

Tracy Whipple (Mitte) mit Jean Strott (rechts)

Zu einer besonders berührenden Begegnung kam es abschließend an der Klingenmühle. Wilhelm Eckhardts Vater starb, als er 7 Jahre alt war. Seine Mutter, eine geborene Gunkel, heiratete daraufhin den Müller Johannes Strott, so dass Wilhelm mit seinen Geschwistern hier seine weitere Kindheit verbrachte. Der als kurzer Halt geplante Besuch der Klingenmühle wurde zum bewegenden Moment, als Tracy Whipple klar wurde, dass der jetzige Besitzer Jean Strott, den sie nun kennenlernen durfte, der Sohn des Stiefbruders ihres Großvaters war. Mit einem Rundgang auf dem Mühlengelände tauchte sie in die Kindheitsgeschichte ihres Großvaters ein.


Ob das Filmprojekt ein reines Familienprodukt bleibt, oder ob es zu einer Veröffentlichung – vielleicht auch in Deutschland – kommt, ist derzeit noch unklar. Dem Dorfverein wurde jedenfalls ein fertiges Exemplar versprochen.

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