„Wie es früher war, weiß niemand mehr. Christen und Juden lebten hier einmal brüderlich beieinander. Dann geriet Hitler an die Macht. Dann kam die Kristallnacht. Dann kamen die Judensterne. Dann, bald nach Kriegsbeginn, wurden die noch im Dorf lebenden Juden nach dem Osten deportiert. Die christlich-jüdische Lebensgemeinschaft, die an diesem Ort entstanden war und mehr als 300 Jahre Bestand hatte, wurde innerhalb weniger Jahre vollkommen zerstört. Heute ist in meinem Dorf niemand mehr, der in einer Synagoge betet.“ (Angelehnt an Max Dessauer, Aus unbeschwerter Zeit: Geschichten um die Juden in meinem Dorf. Frankfurt/M., 1962.)
Das Dorf, von dem der Autor spricht, ist Sterbfritz, ein Ort in Hessen zwischen Vogels-berg, Rhön und Spessart. Max Dessauer war Jude und wurde hier 1893 geboren. Er verließ seine Heimat im Jahr 1933, als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen. Zu diesem Zeitpunkt lebten 93 Bürger jüdischen Glaubens in Sterbfritz. 32 von ihnen – Männer, Frauen und Kinder – fielen dem nationalsozialistischen Massenmord zum Opfer. Der Älteste war 80, die Jüngste 14 Jahre alt.
* * *
„Nun, liebe Eltern, habe ich den Krieg auch in seinen schrecklichsten Formen kennen-gelernt und ich muss Euch nun recht geben, denn Ihr wart ja gegen den Krieg, und ich bekenne mich nun heute auch zu den größten Gegnern des Krieges.“
Dieses Zitat stammt aus einem Feldpostbrief, den der Sterbfritzer Soldat Heinrich Euler am 4. Dezember 1942 an seine Eltern schrieb. Heinrich Euler wurde wenig später bei Stalingrad als vermisst gemeldet. Er sah seine Heimat nie wieder. Dieses Schicksal teilte er mit 89 Sterbfritzer Männern und einer Frau, die im Zweiten Weltkrieg starben.
Am DENKMAL Sterbfritz wollen wir die Namen der ermordeten Juden und der Gefallenen der Jahre 1939 bis 1945 sowie die Namen der 49 Opfer des Ersten Weltkrieges (unter ihnen fünf jüdische Sterbfritzer) nennen. Diese Menschen und die Ereignisse, die zu ihrem Tod führten, sollen nicht in Vergessenheit geraten. Denn das Vergessen hat ohne Zweifel bereits begonnen. Schätzungen zufolge starben im Zweiten Weltkrieg allein in der Ukraine 8 Millionen Menschen, und dennoch wird in diesem Land heute wieder Krieg geführt – an Orten, an denen vor rund 80 Jahren auch Sterbfritzer Soldaten starben.
Mit dem DENKMAL, das als Platzfolge vor der evangelischen Kirche Sterbfritz errichtet wird, wollen wir den Menschen bewusst machen, dass gesellschaftliche und politische Probleme niemals durch Intoleranz und Krieg gelöst werden können, sondern durch Hass und Gewalt nur immer weiter verstärkt werden. Im Sinne von Heinrich Eulers Bekenntnis soll das DENKMAL eine Erinnerungsstätte und ein Ort des geschichtlichen Lernens sein – gegen den Krieg und für den Frieden.
Das Durchschnittsalter der vom Chronik-Team recherchierten Sterbfritzer Gefallenen des Zweiten Weltkriegs beträgt 27 Jahre. Die Altersgruppe der 18- bis 20-Jährigen macht einen Anteil von mehr als einem Drittel der Sterbfritzer Gefallenen aus. Einer von ihnen war Heinrich Euler. Er wurde 1923 in Sterbfritz als ältester von drei Brüdern geboren. Nach dem Besuch der Volksschule machte er eine Lehre als Weißbinder.
Nach allem, was wir wissen, wollte Heinrich Euler sich freiwillig für den Dienst in der Wehrmacht melden. Er war kriegsbegeistert, wie viele junge Männer im Dritten Reich. Seine Eltern waren es nicht. Sein Vater war vielmehr ein erklärter Gegner des Krieges. Er war dies, weil er selbst als junger Mann die Schrecken des Ersten Weltkriegs erlebt hatte. Er versuchte zu verhindern, dass sein Sohn sich frei-willig zu den Waffen meldete. Als er ein Schreiben unterzeichnen sollte, damit der noch nicht volljährige Sohn Kriegsdienst leisten konnte, soll er dieses in den Ofen geworfen haben mit den Worten: „Ich lasse meinen Sohn nicht verheizen.“ Wahrscheinlich konnte der Vater so die freiwillige Meldung des Sohnes verhindern. Doch als Heinrich Euler 18 Jahre alt war, wurde er gemustert, zunächst zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und danach zur Wehrmacht.
Im Sommer 1942 ging es für Heinrich Euler „nach Osten“, an die Front. Von Heinrich Euler sind einige Feldpostbriefe erhalten, die er an seine Familie in Sterbfritz schrieb. Wir wissen aus diesen Briefen, dass Heinrich Euler mit seiner Einheit in Stalingrad eingesetzt war.
Die 6. Armee der deutschen Wehrmacht nahm Stalingrad ein und zerstörte die Stadt fast vollständig, wurde dann aber Ende November 1942 von der Roten Armee eingekesselt. Aus den Briefen Heinrich Eulers an die Familie ist u.a. zu entnehmen, wie sich die Lage der im Kessel von Stalingrad eingeschlossenen Soldaten zuspitzte.
Sein letzter erhaltener Brief datiert vom 5. Januar 1943. Darin schrieb er: „Liebe Eltern, nun sind wir schon 7 Wochen eingeschlossen, und es ist immer noch keine Hoffnung auf eine Befreiung. Wir können von Tag zu Tag weniger essen, was schon ganz schlimme Formen angenommen hat. Wir bekommen pro Tag 100 Gramm Brot und mittags ein halbes Kochgeschirr voll Suppe. […] Liebe Eltern, ich gebe 100 RM zum Besten, wenn wir hier wieder herauskommen, denn wir gehen hier elend zu Grunde, wenn nicht bald ein Wunder geschieht.“
Das Wunder geschah nicht. Heinrich Eulers Spuren verlieren sich im Januar 1943. Wir wissen nicht, ob er bei Kampfhandlungen getötet wurde oder in russische Kriegsgefangen-schaft geriet. Wahrscheinlich erlebte er seinen 20. Geburtstag nicht mehr.
Von den 93 Bürgern jüdischen Glaubens, die 1933 in Sterbfritz lebten, wurde mehr als ein Drittel im Holocaust ermordet. Stellvertretend für sie alle sollen im Folgenden die Schicksale dreier dieser Menschen kurz dargestellt werden:
Josef Goldschmidt war Viehhändler und Kaufmann. Er und seine Frau Klara hatten drei Kinder. Eine Begebenheit aus dem Leben der Goldschmidts führt sinnbildlich vor Augen, wie eng und gut das Verhältnis von Christen und Juden in Sterbfritz vor der Zeit des Nationalsozialismus war. Die Goldschmidts wohnten mit der Familie Schwarz quasi Tür an Tür. Der im Jahr 1900 in Sterbfritz geborene Johann Georg Schwarz berichtet in seinen Lebenserinnerungen Hanjürg der Letzte (Höchst i.Odw., 1970), dass seine Mutter nach der Geburt seines Bruders Hannes im Jahr 1910 krank wurde und das Neugeborene nicht stillen konnte. Klara Goldschmidt hatte zur selben Zeit von einem Mädchen entbunden. Sie stillte nicht nur ihr eigenes Kind, sondern auch den kleinen Hannes Schwarz, dem sie so wahrscheinlich das Leben rettete.
Das jüdisch-christliche Zusammenleben, in dem ein solches Verhalten möglich war, wurde in den Jahren ab 1933 zertrümmert. Neben der Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz waren es vor allem gewalttätige Übergriffe örtlicher Nationalsozialisten, die die Juden aus Sterbfritz vertrieben. Den Höhepunkt dieser Übergriffe stellte der Pogrom am 10. November 1938 dar: 29 der bis Herbst 1938 in Sterbfritz verbliebenen 44 Juden verließen ihr Heimatdorf im zeitlichen Gefolge der „Kristallnacht“.
So auch Josef und Klara Goldschmidt, die im Mai 1939 nach Frankfurt am Main zogen. 1941 wurden die Goldschmidts von dort nach Kaunas in Litauen gewaltsam verschleppt. In dem Deportations-Zug saßen 992 deutsche Juden. Unter ihnen befand sich Malchen Goldschmidt (siehe Foto), ein weiteres Mitglied der weitverzweigten und in Sterbfritz seit Generationen ansässigen Familie Goldschmidt. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1940 war Malchen Goldschmidt nach Frankfurt gezogen. Ob die drei Sterbfritzer sich auf dem Transport nach Litauen noch einmal sahen, wissen wir nicht.
Nach der Ankunft des Zugs in Kaunas verbrachten die Deportierten noch eine letzte Nacht in einer alten Festungsanlage. Am nächsten Morgen ließen die Männer eines SS-Einsatzkommandos die Menschen unter dem Vorwand einer Frühsportübung im Hof antreten. Dann begann man, sie aus dem Hof hinauszutreiben. Als Panik ausbrach, prügelte man die Menschen in zuvor ausgehobene Gruben hinein. Die meisten Opfer wurden erschossen, nachdem sie in den Gruben lagen. Die SS führte über ihre Vernichtungsarbeit genau Buch: 2934 jüdische Männer, Frauen und Kinder hatte man an diesem Tag getötet.
Unter den Ermordeten befanden sich auch die drei Sterbfritzer: Josef Goldschmidt, 65 Jahre alt, seine Frau Klara, 68 Jahre alt, und Malchen Goldschmidt, 60 Jahre alt.
Für die 32 Holocaustopfer und für die 139 Männer, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg als Soldaten starben, soll das DENKMAL Sterbfritz errichtet werden. Die vier dargestellten Einzelschicksale zeigen exemplarisch, welche Lebensgeschichten mit den Namen auf dem DENKMAL verbunden sind. Diese biographischen Informationen werden in der Sterbfritzer Chronik dokumentiert. Durch die Verknüpfung des DENKMALs mit der im Internet zugänglichen Chronik können interessierte Besucher erfahren, wie die Ereignisse der Jahre 1933 bis 1945 in konkrete Lebensläufe hineinwirkten.
Am DENKMAL sollen die Namen derjenigen Gefallenen und Holocaust-Opfer genannt werden, die in Sterbfritz geboren wurden und im Jahr 1933 in Sterbfritz wohnten oder aber nach 1933 zuzogen. Bei den Recherchen des Chronik-Teams wurde darüber hinaus eine nicht unbedeutende Anzahl von Menschen ermittelt, deren Geburtsort Sterbfritz ist, die aber lange vor dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur das Dorf verließen. Ihre Namen werden in einem virtuellen Gedenkbuch in der Internet-Chronik dokumentiert.
Der Vorplatz der evangelischen Kirche wird durch ihre Nordfassade und durch die Umfassungsmauer aus Sandstein gebildet. Wenn man die große Freitreppe, welche die Sandsteinmauer unterbricht, hinaufgestiegen ist, fällt zunächst das Eingangsportal der Kirche mit seiner wuchtigen Zugangstreppe ins Auge.
Rechter Hand steht das steinerne Mahnmal für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs – in seiner Wirkung noch wuchtiger als die Eingangstreppe. Ein DENKMAL der Heldenverehrung,
das vor rund hundert Jahren errichtet wurde, als die Erinnerungskultur noch eine ganz andere war als heute. Dieses Mahnmal soll zu einem Bestandteil des DENKMALs Sterbfritz
werden.
Nach ein paar weiteren Schritten gelangt man an eine kleinere Freitreppe, die aus nur 3 Stufen besteht. Zur Linken der Treppe liegt auf einer Sandsteinplatte eine Gedenktafel aus Bronze. Sie wurde vor 20 Jahren dort niedergelegt, um an das christlich-jüdische Zusammenleben in Sterbfritz und an dessen Zerstörung während der NS-Herrschaft zu erinnern.
Leider ist die Lage dieser Bronzetafel in keiner Weise inszeniert oder auch nur wahr-nehmbar. Im Rahmen der Gestaltung des DENKMALs erhält sie daher einen neuen, angemessenen und sichtbaren Platz, der ihrer Bedeutung gerecht wird.
Auf die kleine Freitreppe folgt der eigentliche Kirchenvorplatz, der mit Porphyr gepflastert ist. Der kleine Platz verjüngt sich an seinem Ende zu einem Weg, der zum Westeingang der Kirche und in seinem weiteren Verlauf zur südlichen Pforte des Kirchengeländes führt. Von dort aus können Gotteshaus, Vorplatz und später auch das DENKMAL barrierefrei erschlossen werden.
Die Freifläche um die Kirche ist jedoch – mit Ausnahme der zuvor beschriebenen bau-lichen Elemente – vollkommen ungestaltet. Sie besteht aus Rasen und zumeist wild gewachsener Vegetation wie kleinen Bäumen und Buschwerk. Durch die Erinnerungsstätte soll das Außengelände gegliedert und geordnet werden.
Das DENKMAL wird vor der ev. Kirche in Sterbfritz errichtet. Es setzt sich aus drei aufeinanderfolgenden Plätzen zusammen: dem Platz der Gemeinschaft, dem Platz der Zerstörung und dem Platz der Annäherung.
Am Beginn des geschichtlichen Lehrpfades, auf den sich der Besucher des DENKMALs begibt, steht der Platz der Gemeinschaft (siehe nächste Seite). In seinem Zentrum befindet sich das bereits vorhandene, ca. 3,00 m hohe, steinerne Mahnmal für die im Ersten Weltkrieg umgekommenen Soldaten. Geht man darauf zu, fallen zuerst der preußische Adler auf der Spitze und die beiden Gedenktafeln darunter ins Auge. Eine der Tafeln ist den „im Weltkrieg 1914 – 1918 gebliebenen Helden“ gewidmet, die andere, die später ergänzt wurde, erinnert an die „Gefallenen und Vermissten des Krieges 1939 – 1945“.
Die Namen der Gefallenen des Ersten Weltkriegs stehen auf zwei Steintafeln, die eher unauffällig an den Seiten des Monuments angebracht sind. Um sie zu lesen, müsste man um das Mahnmal herum-gehen, was nicht möglich ist, da es von kleinen Hecken umgeben ist. Sie werden im Zuge der Gestaltung des DENKMALs Sterbfritz entfallen und durch vier kleine Pflanzbeete ersetzt.
Um das Mahnmal wird mit einem Außendurchmesser von ca. 4,00 m konzentrisch ein kleiner, mit hellen Quarzsandsteinen gepflasterter Rundweg angelegt. Auf diese Weise erhält der Besucher der Erinnerungsstätte die Möglichkeit, um das Mahnmal des Ersten Weltkrieges herumzugehen und die Namen der gefallenen Soldaten auf den seitlichen Gedenktafeln zu lesen.
In diesen Namen verbirgt sich die eigentliche Botschaft des Platzes der Gemeinschaft, nämlich dass Anfang des 20. Jahrhunderts die jüdisch-christliche Gemeinschaft in Sterbfritz noch Bestand hatte. Denn unter den 49 Gefallenen befinden sich 5 Männer jüdischen Glaubens, die gemeinsam mit den 45 Christen im Krieg von 1914 – 1918 kämpften und starben. Die Namen stehen nach dem Datum des Todes sortiert untereinander – ohne jegliche Unterscheidung zwischen Jude und Christ.
Auf den Platz der Gemeinschaft folgt der Platz der Zerstörung. Er thematisiert die Geschehnisse der Dorfgeschichte zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, die sich in ähnlicher Form allerorts in Deutschland ereigneten.
Der Platz der Zerstörung setzt sich gestalterisch aus mehreren konzentrischen Kreisen zusammen. Der erste, äußere Kreis, der einen Durchmesser von ca. 6,00 m hat, wird aus Granitpalisaden gebildet. Er symbolisiert das Dorf Sterbfritz.
Nach einem schmalen Blühstreifen folgt ein Kreis aus verschieden hohen Stahlstäben, an denen 122 Tafeln aus rot-braunem Cortenstahl befestigt sind. Jede dieser Tafeln ist einem der 32 Holocaust-Opfer oder einem der 90 Gefallenen unseres Dorfes gewidmet. Genau hier möchten wir diesen Menschen sichtbar im Dorf ihre Namen und damit einen Teil ihrer Würde wiedergeben.
Der nächste Kreis besteht aus grob behauenen Sandsteinblöcken. Diese Steine – alle ähnlich, aber jeder individuell in seiner Erscheinung - verkörpern die Menschen, die einmal als christlich-jüdische Gemeinschaft an diesem Ort zusammenlebten.
Sie unterschieden sich - wie wir alle - im Wesen, im Denken und auch in Bezug auf die konfessionelle und religiöse Zugehörigkeit, aber sie alle waren Mitglieder einer Gemein-schaft: Sie waren Sterbfritzer, sie waren Deutsche, was sie jahrhundertelang verband.
An die grob behauenen Steinblöcke schließt eine kreisrunde Pflasterfläche aus hellen Quarzsandsteinen an. Diese Fläche, welche die Steinblöcke miteinander verbindet, soll die Beziehung zwischen den Menschen, die damals in Sterbfritz lebten, versinnbildlichen.
Die vier zuvor beschriebenen Kreise werden von einem Weg aus Eichenbohlen, der genau durch das Zentrum des Platzes der Zerstörung verläuft, geteilt. Er steht für die Spaltung und die spätere vollständige Zertrümmerung der jüdisch-christlichen Dorfgemeinschaft. Bei den Eichenbohlen handelt es sich um Eisenbahnschwellen – Symbol für die Zugtransporte in die Vernichtungslager und die Truppentransporte an die Front während des Zweiten Weltkriegs.
Über diese Bahnschwellen betritt der Besucher des DENKMALs vom Kirchenvorplatz aus den zweigeteilten, kreisrunden Platz der Zerstörung. Der Weg beginnt einige Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Die Dorfgemeinschaft aus Juden und Christen existiert nicht mehr, der einst geschlossene Kreis ist zerbrochen: Die linke Kreishälfte steht für die Opfer des Holocaust und für die jüdische Bevölkerung, die rechte für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges und die christliche Mehrheitsgesellschaft des Dorfes.
Wenn der Besucher die beiden Halbkreise aus Sandsteinblöcken - Sinnbild für die Menschen des Dorfes - zu seiner Rechten und seiner Linken betrachtet, fällt auf, dass die Steine zu Beginn eng aneinander stehen. Je weiter man den Weg entlanggeht, desto größer und weiter werden die Abstände. Ähnlich verhält es sich mit der Pflasterfläche aus Quarzsandsteinen. Am Anfang noch geschlossen, löst sich das Pflaster nach und nach auf, bis schließlich nur noch einige helle Pflastersteine in einer anthrazitfarbenen Schotter-fläche übrigbleiben.
Die Auflösung der Pflasterfläche und die größer werdenden Abstände der Sandsteinblöcke stehen sowohl für den Zerfall der Beziehungen zwischen Christen und Juden als auch für die zunehmende Distanz zwischen den Menschen innerhalb dieser beiden Gruppen.
Je länger die NS-Herrschaft andauerte, umso stärker wandelten sich die Lebensbe-dingungen der Mitglieder der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft. Misstrauen, Angst vor Denunziation und der Druck, sich den neuen Verhältnissen anzupassen, wuchsen. Mit dem Ausbruch des Kriegs im Jahr 1939 war die Veränderung dann in jeder Familie einschnei-dend spürbar: Ehemänner, Väter, Söhne und Brüder wurden zur Wehrmacht eingezogen, kämpften an den Fronten in ganz Europa, waren monatelang abwesend und kehrten oft nie mehr zurück.
Die jüdische Gemeinde wurde unter dem Druck des nationalsozialistischen Terrors vollkommen zersprengt. Um ihr Leben zu retten, sahen sich die meisten Sterbfritzer Juden dazu gezwungen, nicht nur ihre Heimat, sondern auch Familienangehörige und schließlich die Gemeinschaft selbst zu verlassen.
Die 32 Namen derer, die nicht fliehen konnten oder wollten, stehen auf den Gedenktafeln des linken Halbkreises aus Stahlstäben, der den Opfern des Holocaust gewidmet ist. Ihm gegenüber befindet sich der Halbkreis aus Stahlstäben mit den 90 Namenstafeln für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs.
Die Namen beider Gruppen werden nach Todesjahren geordnet, und zwar in Spalten von 1939 bis 1945 (Gefallene) und von 1941 bis 1945 (Holocaustopfer). Die ersten Opfer sind in den jeweiligen Spalten unten zu finden und die letzten oben. Die Namen der Toten der Jahre 1939 und 1941 stehen am Beginn des Weges aus Eichenschwellen, die des Jahres 1945 an dessen Ende.
Schreitet der Besucher des DENKMALs weiter auf dem Weg aus Bahnschwellen voran, wird er erkennen, wie mit fortwährender Dauer des Zweiten Weltkriegs die Gefallenenzahlen immer größer und größer wurden. Mehr als zwei Drittel der Sterbfritzer Soldaten starben in den letzten beiden Kriegsjahren, als der Zweite Weltkrieg militärisch eigentlich schon entschieden war.
Im gleichen Maß wie die Opferzahlen ansteigen, werden auch die Stahlstangen immer länger. Es entsteht der Eindruck eines Käfigs. Dieser soll die Situation der Menschen während der NS-Diktatur versinnbildlichen. Wie überall in Deutschland gab es auch in Sterbfritz Täter, Opfer, Mitläufer, Fanatiker, Distanzierte und Gegner des Regimes – wobei die Zugehörigkeit des Einzelnen zu diesen Gruppen nicht immer trennscharf bestimmt werden kann. Wer die Folgen von Hitlers Politik erkannte, wollte vielleicht aus dieser Situation ausbrechen. Doch der Käfig des totalitären Staates aus Überwachung, Einschüchterung und Bedrohung war schon zu hoch.
Der Platz der Zerstörung ist sowohl den Ermordeten des Holocaust als auch den Gefallenen des Zweiten Weltkrieges gewidmet. Beide Gruppen stehen sich hier gegenüber. Wenn aber der trennende Weg aus Eisenbahnschwellen nicht wäre, könnte sich der Kreis wieder schließen. Aus unserer Sicht ist das eigentlich Unfassbare und Ungeheure, was sich in der Zeit zwischen 1933 und 1945 ereignete, die Tatsache, dass in nur wenigen Jahren eine Gemeinschaft zerschlagen wurde, die mehr als 300 Jahre nicht in Frage gestellt wurde. Juden und Christen gehörten zusammen – in Sterbfritz und in ganz Deutschland.
Um die einstige Zusammengehörigkeit noch stärker zu verdeutlichen, sind die Namenstafeln beider Gruppen wie Puzzleteile geformt, die man nur verbinden muss, um aus zwei eins zu machen. Doch das „Eins“ – die Dorfgemeinschaft aus Christen und Juden – wurde vor rund 80 Jahren zerstört.
Die Sinnlosigkeit der Auslöschung dieser Gemeinschaft und der Auslöschung vieler Millionen Menschen in den Jahren 1933 bis 1945 drückt sich in den Zitaten von Max Dessauer und Heinrich Euler (siehe Seite 1) aus, die den Ausgangspunkt für die Entwurfsidee des DENKMALs bildeten. Diese Zitate stehen auf Cortenstahltafeln, die unterhalb der Namenstafeln an den Stahlstäben der Halbkreise für die Gefallenen und für die Ermordeten angebracht sind. Die Gedanken von Heinrich Euler und Max Dessauer bringen die zentralen Intentionen unseres Projekts zum Ausdruck: die Trauer um die Ermordeten und die Gefallenen, die Erinnerung an die zerstörte christlich-jüdische Dorfgemeinschaft und nicht zuletzt die Mahnung „Nie wieder Krieg“.
Wenn man den Weg aus Eichenschwellen bis zu seinem Ende geht, steht dort, befestigt an einer kleinen Mauer aus Sandsteinblöcken, eine bronzene Gedenktafel. Diese Tafel lag einmal auf der Sandsteinplatte zur Linken der kleinen dreistufigen Freitreppe, die auf den Kirchenvorplatz führt (siehe Seite 5). Ihr Text beschreibt das Ende der christlich-jüdischen Dorfgemeinschaft - stellvertretend für das Ende der christlich-jüdischen Lebens-gemeinschaft in ganz Deutschland:
„DER JÜDISCHEN GEMEINDE STERBFRITZ
ZUM GEDENKEN
ÜBER 300 JAHRE WAREN DIE STERBFRITZER JUDEN TIEF IN IHREM HEIMATDORF VERWURZELT UND LIEBTEN IHR DEUTSCHES VATERLAND.
FÜNF JÜDISCHE MÄNNER STARBEN ALS SOLDATEN IM ERSTEN WELTKRIEG.
NACH 1933 MACHTEN DIE NATIONALSOZIALSITEN AUS GEACHTETEN UND RESPEKTIERTEN JÜDISCHEN NACHBARN VERACHTETE BÜRGER ZWEITER KLASSE.
AM 10. NOVEMBER 1938 SCHÄNDETEN NAZIS AUS STERBFRITZ UND UMGEBUNG
DAS GOTTESHAUS DER STERBFRITZER JUDEN,
MISSHANDELTEN JÜDISCHE MENSCHEN UND ZERSTÖRTEN IHR EIGENTUM.
UNTER DEM DRUCK DER NATIONALSOZIALISTISCHEN VERFOLGUNG UND GEWALT VERLIESSEN VIELE STERBFRUTZER JUDEN IHRE HEIMAT. NICHT ALLEN GELANG ES, INS AUSLAND ZU FLIEHEN UND IHR LEBEN ZU RETTEN. 1942 WURDEN DIE LETZTEN STERBFRITZER JUDEN VERSCHLEPPT UND IN KONZENTRATIONSLAGERN ERMORDET.
1933 LEBTEN 93 BÜRGER JÜDISCHEN GLAUBENS IN STERBFRITZ.
32 VON IHNEN – MÄNNER, FRAUEN UND KINDER – FIELEN DEM NATIONALSOZIALISTISCHEN MASSENMORD ZUM OPFER.
MÖGE DAS LEID DER VERFOLGTEN UND ERMORDETEN
EINE MAHNUNG FÜR DIE LEBENDEN SEIN!
‚GOTT WIRD DEN TOD VERSCHLINGEN AUF EWIG. UND GOTT DER HERR WIRD
DIE TRÄNEN VON ALLEN ANGESICHTERN ABWISCHEN UND WIRD AUFHEBEN DIE SCHMACH SEINES VOLKES IN ALLEN LANDEN; DENN GOTT HAT ES GESAGT.‘
(Jesaja, 25,8)“
Dreht sich der Besucher um, weil er den Platz der Zerstörung wieder verlassen möchte, wird sein Blick auf den Platz der Annäherung gelenkt, dessen Zentrum genau auf der Mittelachse des Weges aus Eichenschwellen liegt.
Dieser Platz hat genau wie die beiden anderen eine runde Form. Sein Außendurchmesser beträgt ca. 5,00 m. Im Gegensatz zu den beiden ersten Plätzen des DENKMALs greift er aber keine vergangenen Ereignisse auf. Er steht für die nach wie vor schwierige Sicht auf die deutsch-jüdische Geschichte und soll zum Nachdenken darüber anregen.
In seinem Zentrum befindet sich ein rundes Beet mit Bepflanzung als Symbol für das Leben - kein steinernes Mahnmal für gefallene Helden, kein Weg der Trennung und Vernichtung aus Eichenschwellen. Im Abstand von ca. 50 cm zum Pflanzbeet sind auf einer Fläche aus hellen Quarzsandsteinen 6 grob behauene Sandsteinwürfel als Kreis angeordnet. Sie werden von einem Blühstreifen ringförmig umgeben. Diese Steinwürfel sollen die Menschen zum Verweilen und Nachdenken einladen. Wir wünsche uns, dass an dieser Stelle, von der aus man die gesamte Erinnerungsstätte überblickt, ein reger Gedankenaustausch der Besucher über ihre Gefühle, Assoziationen sowie über ihre Interpretationen der Aussagen und der Bedeutung des DENKMALs stattfindet.
Alle Gestaltungselemente des Platzes der Annäherung sind gleichmäßig, punktsymmet-risch um die Bepflanzung im Zentrum angeordnet. Die einzige Ausnahme bildet die ca. 15 cm dicke Sandsteinplatte, auf der einmal die bronzene Gedenktafel zur Erinnerung an die jüdischchristliche Dorfgemeinschaft lag, die nun auf dem Platz der Zerstörung steht.
Diese Steinplatte, die an ihrem ursprünglichen Standort verbleibt, fällt vollkommen aus der Symmetrie heraus. Sie stört das gleichmäßige Erscheinungsbild des Platzes der Annäherung und soll dadurch beim Besucher des DENKMALs die Frage nach dem Warum hervorrufen.
An geeigneten Stellen der Erinnerungsstätte werden QR-Codes angebracht, um zusätz-liche Informationen zu geben und Fragen zu erörtern. Am Platz der Annäherung wird die Frage nach dem Warum beantwortet, indem der Besucher die Geschichte der Sandstein-platte und der bronzenen Gedenktafel erfährt:
„Henry Schuster, ein in Sterbfritz geborener Jude, wollte Mitte der 1990er Jahre eine Erinnerungstafel mit den Namen der Sterbfritzer Opfer des Holocaust stiften, die im Dorf ihren Platz finden sollte. Die Widerstände gegen eine solche Gedenktafel mit den Namen der Ermordeten waren damals so groß, dass erst im Jahr 2004 lediglich eine allgemein gehaltene Bronzetafel für die Jüdische Gemeinde vor der Evangelischen Kirche in Sterb-fritz eingeweiht wurde. Die Gedenktafel mit den Namen der im Holocaust Ermordeten fand ihren Platz auf dem Jüdischen Friedhof in Altengronau, der auch den Sterbfritzer Juden jahrhundertelang als Begräbnisstätte diente.“
Diese kurze Geschichte ist Beleg dafür, wie dringend es einer weitergehenden Beschäfti-gung mit der deutsch-jüdischen Geschichte und einer Verständigung zwischen der Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten bedarf. Obwohl seit dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg mittlerweile viele Jahrzehnte vergangen sind und kaum noch Zeit-zeugen leben, gelingt es uns nicht, unverkrampft miteinander umzugehen. In einer guten Partnerschaft ist ein solcher Umgang aber von großer Wichtigkeit, um auch kritische Auseinandersetzungen führen zu können, ohne die Gefühle des anderen zu verletzen.
In diesem Sinn hoffen wir, dass das DENKMAL Sterbfritz von seinen Besuchern als Appell zur Verständigung und zum vorurteilsfreien Umgang miteinander wahrgenommen wird - unabhängig von Herkunft, religiöser Zugehörigkeit oder von sonstigen Unterschieden. Das DENKMAL Sterbfritz soll nicht bloß eine geschichtliche Erinnerungsstätte sein, sondern ein Ort des geschichtlichen Lernens gegen den Krieg und für den Frieden.